Eine persönliche Geschichte zum Internationalen Kinderkrebstag 2023
In der Schweiz erkrankt fast jeden Tag ein Kind oder ein:e Jugendliche:r an Krebs. Jährlich sind dies etwa 300 Kinder und Jugendliche. Die Erkrankung stellt für die Betroffenen und ihr Umfeld eine grosse Herausforderung dar. Eine Mutter und eine Ärztin erzählen.
Nannette Keller, Mutter von drei Kindern, erzählt, wie ihre Familie den langen Weg der Genesung erlebt hat.
Wie alles begann
Es war im Juni 2012. Unser Sohn war auf dem Fussballplatz, als der Kinderarzt anrief. Das Blutbild von Luis sei schlecht. Wir müssten sofort in den Notfall.
Ich kann mich noch gut an den Arzt erinnern, der uns in der Kinderklinik die Diagnose eröffnete. Er hat Luis erklärt, dass in seiner Blutfabrik das falsche Programm laufe. Es produziere Tandems statt Velos. Diagnose Leukämie. Vom Notfall wurden wir direkt auf die Onkologie verlegt. Dorthin, wo ich nie landen wollte.
Die Diagnose
Ich war im falschen Film. Ich hatte schon von Leukämie gehört. Aber was es bedeutet, was nun auf uns zukommen würde, davon hatte ich keine Ahnung. Es lief doch gerade alles so gut. Die blauen Flecken bei Luis schrieben wir dem Fussball zu. Nie im Leben hätten wir damit gerechnet, dass unser Sohn todkrank sein könnte.
Der nächste Morgen
Am nächsten Morgen wünschte ich mir, Luis’ Zimmer nicht verlassen zu müssen. Ich wollte all die krebskranken Kinder und ihre Eltern auf der Onkologie-Abteilung nicht sehen. Ich wünschte mir, mich der Situation nicht stellen zu müssen... Ein Vater fragte mich prompt im Pausenraum auf der Station: «Sind Sie neu hier? Wir sind schon seit einem halben Jahr hier in Behandlung.» Ein Zeithorizont, den ich mir damals nicht vorstellen konnte.
Viele Fragen
Im Aufklärungsgespräch mit den behandelnden Ärzten und Ärztinnen stellten sich mir tausend Fragen. Wie sollten wir den Alltag mit den beiden gesunden Geschwistern organisieren? Wie lange würde die Therapie überhaupt dauern? Konnte ich noch arbeiten? Ich wollte einen Plan haben, versuchte, die Kontrolle über die Situation zu halten, bis ich realisierte, dass ich mit einem krebskranken Kind keine mehr hatte.
Der Alltag steht Kopf
Luis verstand mit seinen acht Jahren nicht wirklich, was seine Diagnose bedeutet. Für ihn war das Schlimmste, dass er nicht mehr Fussball spielen konnte. Und natürlich merkte er, dass für alle – seine Schwestern und seine Freunde – das Leben ‘Vollgas’ weiterging, während er aus den Strukturen und dem Alltag herausfiel.
Für uns als Familie wurde der Alltag auf den Kopf gestellt. Wir haben einfach funktioniert. Wir Eltern waren die Basis der Begleitung, mussten stark sein. Dass unsere Ehe den Schicksalsschlag überstanden hat, ist nicht selbstverständlich, denn für die Partnerschaft blieb nicht viel Zeit. Jemand war immer bei Luis im Spital. Manchmal konnten wir Eltern bei der morgendlichen Ablösung, wenn Luis noch schlief, zusammen einen Kaffee trinken. Oder gemeinsam zu Abend essen und für kurze Zeit abschalten, während die Grosseltern zu den anderen Kindern schauten.
Auf der Arbeit liess ich mich zuerst krankschreiben und bezog anschliessend unbezahlten Urlaub. Vor zehn Jahren waren die Rechte der Arbeitnehmenden noch miserabel – heute gibt es einen 14-wöchigen, bezahlten Betreuungsurlaub. Schlussendlich entschied ich mich, meinen Job zu kündigen, um auch für die gesunden Geschwister da zu sein. Ohne unser Umfeld hätten wir diese Zeit nicht geschafft. Wenn ich abends nach Hause kam – mit oder ohne Luis – hatte die Schwiegermutter gekocht. Die kleine Schwester von Luis lernte in dieser Zeit mit den Grosseltern Velofahren. Sie packten einfach an und ich musste mich um Einiges nicht mehr kümmern. Dass zuhause das Leben für die gesunden Geschwister weiterging, entlastete uns enorm.
Organisatorische Flexibilität war gefragt
Nicht selten fuhren wir mit Luis zur Therapie ins Spital, um dann wegen zu schlechter Blutwerte wieder heimzukehren. Ein paar Tage später musste alles aufs Neue organisiert werden. Luis hatte viele Komplikationen, er wurde aufgrund der Therapie immer schwächer. Die Behandlung war körperlich und psychisch ein Marathon. Obwohl es längst genug war, kam immer noch etwas dazu. Dennoch: ohne Chemotherapie hätte Luis die Krebserkrankung nicht überlebt.
Alle tragen mit, auch die Geschwister
Es war eine schwierige Zeit, Luis wäre zweimal fast gestorben. Im Nachhinein sehe ich auch schöne Momente. Gute Begegnungen und sehr viel Menschlichkeit. Das Ärzteteam um Frau Lüer und die Pflege erklärten uns ehrlich und verständlich, warum nun dieses und jenes noch nötig war. Sie begleiteten uns äusserst professionell und unglaublich menschlich. So intensiv die Behandlung auch war, auf der Kinderonkologie findet das Leben statt, es wird gespielt und gelacht.
Emily, die kleine Schwester begleitete uns oft ins Spital. Sie wurde in die Pflege mit eingebunden, half mit ihren drei Jahren mit beim Legen von Infusionen und bei der Versorgung des Ports. Mit ihrem Like A Bike flitzte sie auf dem Flur umher, und das Spielzimmer wurde zu ihrer Spielgruppe. In diesem Moment realisierte ich, dass die kranken Kinder auf der Onkologie Kinder sind wie die anderen Kinder da draussen auch – einfach ohne Haare. «Die Hülle» hatte sich aufgrund der Behandlung mit Chemotherapie verändert - und im Laufe der Zeit auch ihre Kinderseele.
Anna, die ältere Schwester verstand die Bedeutung der Krankheit besser. Sie hatte Angst um ihren Bruder und wollte nachts unbedingt geweckt werden, wenn wir wieder unerwartet ins Spital einrücken mussten. Da sie zur Schule ging, konnte sie Luis nicht so oft im Spital besuchen. Dafür wurde sie von ihren Freundinnen getragen, nahm am normalen Alltag teil und orientierte sich gegen aussen. Als es Luis sehr schlecht ging und er mehrere Wochen stationär im Spital bleiben musste, dufte Anna ausnahmsweise bei ihm übernachten. Das hat die beiden sehr verbunden und Luis war danach wieder viel positiver. So haben alle, auch die Geschwister, die Situation mitgetragen und gleichzeitig versucht, ihr Leben weiter zu leben.
Einfach helfen, ohne zu fragen
Uns Eltern taten auch die kleinen Gesten gut: Regelmässige Nachrichten eines Arbeitskollegen, der Luis nicht mal kannte oder eine an die Haustüre gehängte Grusskarte. Einfach zu wissen, dass Freunde und Bekannte in Gedanken bei uns waren. In der langen Zeit der intensiven Therapie zeigte sich, wer wirklich verbunden war mit unserer Familie. Wir verloren Freunde und gewannen neue dazu. Wir sind heute noch dankbar für alle, die nicht müde wurden, uns zuzuhören und uns einfach mal mit leichten Themen vom Krankheitsalltag ablenkten. Geholfen haben uns auch diejenigen Menschen im Umfeld, die ohne zu fragen einfach ‘gemacht’ hatten. Eine Lasagne vor die Tür stellen oder die Geschwister zum Mittagstisch einladen. In dieser Zeit war es für uns einfacher, spontane Hilfe anzunehmen, als aktiv zu delegieren, denn oftmals wussten wir selbst nicht mehr, was wir eigentlich brauchten.
Zurück in die Normalität
Heute ist unser Sohn 18 Jahre alt, besucht das Gymnasium, spielt Fussball und Tennis und fährt Snowboard. Die Therapie dauerte zwei Jahre, seit Juni 2014 gilt Luis als geheilt. Zu einem Rückfall ist es zum Glück nicht gekommen.
Luis Krankheit war sehr einschneidend für unsere Familie. Ohne Unterstützung aus dem Umfeld wären wir nicht zurechtgekommen.
Nanas Lunchbox – was aus eigener Betroffenheit entstanden ist
Nachdem so etwas wie Normalität in unser Leben zurückkehrte, konnte ich viel Energie aus dieser schwierigen Situation schöpfen und wollte etwas zurückgeben. Die Idee ist entstanden, andere Familien in ähnlichen Situationen mit feinen Mahlzeiten zu entlasten. Im belastenden Alltag mit kranken Angehörigen bleibt fürs Einkaufen und Kochen wenig Musse. Dabei waren es genau diese gemeinsamen Momente zusammen am Familientisch bei einem feinen Essen, die uns als Familie gestärkt hatten. Die Geschwister konnten von der Schule und ihrer Freizeit erzählen, standen wieder mal im Mittelpunkt. Das ist die Idee, die hinter Nanas Lunchbox steckt: Sie soll einen Moment der Normalität schenken und Sorgen und Ängste für einen Augenblick in den Hintergrund rücken lassen.
Betroffene Familien gehen sehr unterschiedlich mit einem Schicksalsschlag um. Wir hätten genauso gut daran zerbrechen können. Wir hatten – nebst einem medizinisch und menschlich grossartigen Onkologie-Team und einem wunderbaren Umfeld – auch einfach ganz viel Glück.
Dr. med. et MME Sonja Lüer, Oberärztin in der Kinderkrebsabteilung am Inselspital Bern, berichtet aus medizinischer Sicht.
Diagnose Krebs bei Kindern und Jugendlichen
Eine Krebsdiagnose ist immer ein Schock. In einem solchen Moment friert alles ein, die Welt steht still. Als Ärztin im Spital überbringe ich die Diagnose dem Kind oder Jugendlichen und seinen Begleitpersonen, die ich noch nie zuvor gesehen habe und die ich nicht kenne. Wichtig ist: Niemand hat Schuld an einer Krebserkrankung. Krebs ist nicht ansteckend.
Eine Krebsdiagnose zu überbringen erfordert Fachwissen, Verantwortung und Feingefühl. In erster Linie erkläre ich die Diagnose und was medizinisch erforderlich ist. Dann gilt es, gemeinsam die Situation auszuhalten und Luft zu holen, um wieder in eine Handlungsfähigkeit zu kommen. Danach besprechen wir gemeinsam die nächsten Schritte.
Die Behandlungen
Krebserkrankungen bei Kindern und Jugendlichen sind nicht vergleichbar mit Krebs bei älteren Menschen. Krebs bei Kindern und Jugendlichen hat deutlich bessere Heilungschancen. Durch nationalen und weltweiten Austausch und durch die Zusammenarbeit im Verbund von Fachexpert:innen ermöglichen wir unseren kleinen und grossen Patient:innen Zugang zur bestmöglichen Krebsbehandlung.
Diese Behandlungen sind oftmals sehr intensiv. Medikamente und Therapien werden an die Erkrankung und das Alter und Gewicht der Patient:innen genau angepasst. In der Krebsbehandlung von Kindern- und Jugendlichen setzen wir Chemotherapie ein, und je nach Erkrankung braucht es weitere Medikamente, Operationen und Strahlentherapie. Gemeinsam arbeiten wir daran, dass die Kinder und Jugendlichen geheilt werden können. Spitalaufenthalte werden so kurz wie möglich gehalten, und wenn immer möglich werden die Behandlungen ambulant durchgeführt.
Kinder und Jugendliche
Die Kinder und Jugendlichen, die erkrankt sind und eine Krebsdiagnose überbracht bekommen, sind dieselben, die morgens noch im Kindergarten oder in der Schule waren und den Abend eigentlich mit Freunden verbringen wollten. Auch, wenn es ihnen aufgrund der Erkrankungssymptome vielleicht schon einige Zeit nicht gut ging, sind es Kinder mit ihren ganz individuellen Geschichten, Träumen, Wünschen und Hoffnungen. Für mich persönlich in meiner Arbeit als Ärztin ist dies ein sehr wichtiger Punkt. Jeder Mensch ist einzigartig in seiner Persönlichkeit, das darf auch im Spital nicht zu kurz kommen.
Beziehungsaufbau
Es geht beim professionellen Beziehungsaufbau darum, die individuelle Situation so gut wie möglich zu verstehen, um einfühlsam kommunizieren zu können und gemeinsam mit den Betroffenen und ihren Familien wichtige Entscheidungen im Behandlungsverlauf verantwortungsvoll zu fällen. Bei kleinen Kindern sind es die Eltern, die - durch das Behandlungsteam ausgestattet mit allen notwendigen Informationen - die Entscheidungen für ihr Kind treffen. Ältere Kinder und Jugendliche werden aktiv in Entscheidungsprozesse auf ihrem Behandlungsweg mit eingebunden.
Neben der hochspezialisierten Medizin, die es für die Krebsbehandlungen unserer kleinen und grossen Patient:innen braucht, und in der wir auch lebensbedrohliche Momente in professionellen Teams gemeinsam meistern, ist eine offene und vertrauensvolle Kommunikation enorm wichtig.
Behandlungsteams
In die Behandlung von krebskranken Kindern und Jugendlichen erfordert die Zusammenarbeit vieler Fachpersonen. Die Patientin und der Patient stehen im Mittelpunkt unserer täglichen Arbeit mit den kleinen und grossen Patient:innen. Nur gemeinsam können die hochspezialisierte Medizin und eine qualitativ hochstehende Behandlung gelingen.
Die Geschwister
Auch für Schwestern und Brüder eines an Krebs erkrankten Kindes oder Jugendlichen besteht eine Ausnahmesituation. Sie sind durch den neuen Alltag stark mitgeprägt. Vieles dreht sich um die Behandlung ihres erkrankten Geschwisters. Dazu gehören Abwesenheit von Bezugspersonen, die das erkrankte Kind im Spital betreuen.
Es gibt geplante, aber auch unvorhergesehene Spitalaufenthalte ihrer krebskranken Schwester oder Bruders. Das kann Sorgen bereiten und eine ständige Dauerbelastung darstellen. Und dabei gilt es auch, ihren eigenen Alltag und ihre Bedürfnisse wahrzunehmen, anzuerkennen und möglich zu machen. Auch das ist ein Teil des Behandlungsweges einer Familie, deren Kind an Krebs erkrankt ist.
Das Umfeld
Das soziale Umfeld der Kinder und Jugendlichen spielt eine sehr wichtige Rolle – auch und gerade während intensiver Therapiephasen im Spital. Jeder Mensch reagiert unterschiedlich, wenn er von einer Krebserkrankung im Umfeld erfährt. Es kann Unsicherheit bestehen, wie man sich am besten verhalten soll.
Für die Erkrankten ist es eine Hilfe zu wissen, dass sie nicht allein sind. Dass ihre Freundinnen, Freunde und Schulkolleg:innen, aber auch zum Beispiel Lehrpersonen an sie denken, kann enorm beim Durchhalten der Behandlungen helfen. Zum Beispiel können das Briefe mit guten Wünschen, Fotos oder Zeichnungen sein, die dann auch mal an den Wänden im Spitalzimmern unserer Patient:innen hängen und sie erfreuen.
Nach der Krebstherapie
Nach Abschluss der Krebstherapie beginnt die Nachsorge. Diese beinhaltet regelmässige ambulante Kontrollen im Spital. So besteht auch nach der Krebsbehandlung oft über Jahre hinweg der Kontakt weiter. Für mich als Ärztin ist es sehr wichtig zu sehen, wie es den Kindern und Jugendlichen viele Jahre nach ihrer Erkrankung geht. Wir kennen uns oft über lange Zeit hinweg, und die Familien schätzen es sehr, vertraute Gesichter von der Zeit ihrer Krebstherapien wiederzusehen.
Vielen ehemaligen Krebspatient:innen geht es sehr gut, sie besuchen die Schule, absolvieren ihre Ausbildung und gehen in einen Beruf. Ein Teil der ehemaligen Patient:innen leidet jedoch unter Folgen der Erkrankung und Therapien. Hier gilt es noch viel zu erreichen.
Auf die Bedürfnisse aufmerksam zu machen und die bestmögliche Unterstützung zu finden ist für das Leben der Survivors, wie ehemalige Krebspatient:innen auch genannt werden, enorm wichtig. Auch beispielsweise Kontakte mit anderen Betroffenen können hilfreich sein.
Nicht alle werden gesund
Leider gibt es trotz aller Behandlungsmöglichkeiten immer noch keine hundertprozentigen Heilungsraten. Das bedeutet, dass auch Kinder und Jugendliche an Krebs versterben können. Dies erfordert von allen sehr viel Kraft.
Leiden zu verhindern und Schmerzen zu lindern steht während aller Krebsbehandlungen an oberster Priorität. Das gilt auch in der Begleitung von Patient:innen, die auf ihrem Weg versterben. Ihnen und ihren Familien und Freunden gehören unsere Gedanken. Wir hoffen, dass durch Forschung und Weiterentwicklungen in Zukunft alle Patient:innen geheilt werden können.
Die kleinen Momente
Aus meiner Sicht als Ärztin ist es neben aller Hochspezialisierung in der Medizin wichtig, den kleinen und grossen Menschen menschlich gegenüberzutreten und empathisch miteinander umzugehen. Das ist es, was in Erinnerung bleibt: die kleinen Momente, ein Zuhören, ein aufmunterndes Wort, auch mal gemeinsam zu lachen. Und manchmal kommt es auch vor, dass man gemeinsam weint.
Der Spitalalltag, der für viele Kinder und Jugendliche und ihre Familien zur Normalität wird, beinhaltet auch sehr viel Lebendiges: kleine Babys, die während der Zeit der Chemotherapien laufen und sprechen lernen, Patient:innen die im Spielzimmer spielen oder auf dem Stationsflur Traktor fahren, laute Klänge aus der Musiktherapie, Jugendliche, die gemeinsam Gamen und Familien, die in der Stationsküche gemeinsam essen.
Zeit für die Patient:innen zu haben ist auf Grund der Unterfinanzierung der Kindermedizin und des dadurch entstehenden wirtschaftlichen Druckes ein rarer werdender, aber enorm wichtiger Faktor in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit einer Krebserkrankung.