9. November 2023
Alle Krebsdaten im Blick
Alle wichtigen Daten über Krebserkrankungen lückenlos sammeln und auswerten – das ist ein Weg, um die Qualität der medizinischen Versorgung von Krebsbetroffenen zu verbessern. Das Krebsregister kümmert sich um die Daten von Erkrankten aus Bern und Solothurn. Andrea Jordan erzählt, wie sie und ihr Team die beiden grössten Herausforderungen meistern.
Ein Register? Was ist ein Krebsregister?
Wer dabei an eine stille Bibliothek mit Zettelkästen denkt, in der ein Bibliothekar ein grosses, dickes Buch auf ein Pult wuchtet, 1300 Seiten, dicht beschrieben mit langen Verzeichnissen und Zahlenreihen, liegt falsch.
Alle Krebsfälle
Das Krebsregister ist ein Verzeichnis. Eine Datenbank. Aber es ist auch eine Geschäftsstelle. Ein Ort, an dem Datensammlerinnen und -sammler arbeiten und forschen. Von Kanton zu Kanton unterschiedlich – wir sind ja in der Schweiz. Einzelne Kantone wie etwa der Kanton Aargau haben ihre eigene Geschäftsstelle. Andere regeln das gemeinsam wie Bern und Solothurn oder die Ostschweizer Kantone. Die Krebsregister wollen nichts weniger als alle Krebsfälle aller in der Schweiz lebenden Menschen lückenlos, vollständig und kontinuierlich erfassen.
Weshalb?
Die Daten sollen helfen, die Krankheit besser zu verstehen und zu behandeln.
Das Jüngste der Schweiz
Andrea Jordan ist Koordinatorin und administrative Leiterin des Krebsregisters Bern Solothurn. Es ist das jüngste der Schweiz. Für den Kanton Bern wurde es 2013 gegründet, für Solothurn 2019. St. Gallen hingegen dokumentiert Krebsfälle seit über 60 Jahren.
Bis vor kurzem war diese bevölkerungsbezogene Beobachtung nur mässig erfolgreich. Zu selten und zu unvollständig wurden Krebsfälle gemeldet. Deshalb nahm der Staat das Heft in die Hand. Seit 2020 gilt das Krebsregistrierungsgesetz.
Willkommen in der Geschäftsstelle
Die Geschäftsstelle befindet sich an einer guten Adresse, im Hörsaaltrakt des Instituts für Gewebemedizin und Pathologie der Uni Bern. Eine lichtdurchflutete Halle, schneeweisse Wände, ein raumgreifendes Treppenhaus. Oben führt eine Galerie zu den Büros von Andrea Jordans 16-köpfigem Team. Sie bittet herein. Eine kurze, herzliche Begrüssung. Nach wenigen Sekunden läuft das Gespräch.
Seit 2020 gilt die Meldepflicht.
Jede Ärztin jeder Arzt, der oder die eine Krebsdiagnose stellt, muss dies einem Krebsregister melden. Dazu gehört, die Patientinnen und Patienten darüber zu informieren, dass ihre Tumordaten an das zuständige Krebsregister übermittelt werden. Melden müssen sie alle Krebsfälle der ständigen Wohnbevölkerung in den Kantonen Bern und Solothurn, auch gewisse Krebsvorstufen. Spitäler, Labors und andere private und öffentliche Institutionen melden ebenfalls.
850 Meldungen pro Tag
Die Krankheit ist häufig. Im ersten Quartal 2023 erhielt das Krebsregister Bern Solothurn über 50'000 Einzeldokumente. Täglich gehen zwischen 800 und 850 elektronische Meldungen über Krebsfälle von Erwachsenen ab 20 Jahren ein. Das Krebsregister führt sie neuen oder bereits bekannten Krebsfällen zusammen. Die Meldungen enthalten oft ein ganzes Bündel von Dokumenten, zum Beispiel Berichte der Pathologie, der Chemotherapie oder weiterer Behandlungsschritte, die eine Patientin oder ein Patient durchlaufen hat.
Es gibt zwei Herausforderungen. Erstens muss das Team von Andrea Jordan die täglich anfallende Datenmenge bewältigen. Das heisst aufnehmen, korrekt zuordnen, zusammenfassen, mit bestehenden Daten abgleichen und schliesslich als sauber beschriebenen und nummerierten Krebsfall ablegen.
Etwas fehlt
Zweitens weisen viele Meldungen Lücken auf. Mal fehlt das Datum der Patienteninformation, mal der Behandlungsbericht oder der Bericht einer Tumorkonferenz. Oft fehlt auch das Datum, an dem eine Ärztin oder ein Arzt die Diagnose gestellt hat.
Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass wohl niemand den Tag vergisst, an dem er erfährt: «Sie haben Krebs».
Solche Lücken müssen geschlossen werden. Andrea Jordan: «Wir betreiben einen hohen Aufwand, um an gute, vollständige Daten zu kommen. Zum Beispiel mailen wir an all jene, von denen wir keine Daten erhalten haben. Wenn nötig ‹mahnen› wir auch.» Ihre Mitarbeitenden wüssten, welche Berichte zu bestimmten Behandlungen zu erwarten seien und bei wem sie nachfragen müssten.
Freude an der Systematik
Von den Mitarbeitenden wird neben sehr guten medizinischen Kenntnissen eine hohe Effizienz und Genauigkeit verlangt. Wer gerne strukturiert, nach Kategorien und Klassen sucht, Ordnung schafft oder gemeinsame Merkmale findet, ist im Krebsregister genau richtig. Schliesslich geht es darum, alle Tumore sauber voneinander abzugrenzen, zu definieren und zu benennen. Die Daten müssen vergleichbar werden. Die Forschung muss sie nutzen können.
Und das nicht nur schweizweit. Andrea Jordan nimmt drei Bücher aus ihrem Regal. Es sind Nachschlagewerke mit Richtlinien dafür, wie Tumore zu definieren und voneinander abzugrenzen sind, damit man ihnen einen Code zuordnen kann. Eines der Bücher heisst «International Classification of Diseases for Oncology», kurz ICD-O. Es gilt weltweit, also in jedem Land, auf jedem Kontinent der Erde. In welcher anderen Branche gibt es schon einen globalen Standard?
Aktueller Stand des Wissens
Einmal im Jahr ist Abgabetermin, am 1. Dezember. Jedes Krebsregister übermittelt seine Krebsfälle anonymisiert an die Schweizer Zentrale, die Nationale Krebsregistrierungsstelle (NKRS).
Je aktueller die Daten sind, desto näher kommen sie der Realität. Denn das Wissen soll auf neuesten Daten beruhen. Nach Gesetz liegt die Aktualität bei einem Jahr. Die 2022-er Daten müssen also bis 1. Dezember 2023 der NKRS gemeldet werden. «Ich bin durchaus ehrgeizig. Ich will, dass wir das beste Krebsregister der Schweiz werden», sagt Andrea Jordan.
Noch 2022 hinkte ihr Krebsregister Bern Solothurn den meisten anderen hinterher. Jetzt hat das Team mächtig aufgeholt, auch dank intelligenter Software-Unterstützung.
Zur Person
Andrea Jordan sagt, sie sei eine Ausnahme unter Krebsregister-Leitenden. Sie sei weder Ärztin noch Informatikerin. Sie habe ihre Karriere in der Pflege begonnen. «Aber drei meiner vier erwachsenen Kinder arbeiten in der Informatik. Vielleicht liegt das ja in unserer Familie.» Ehrenamtlich «surfe ich gerade auf einem Hoch»: Im August 2023 konnte sie als Präsidentin des Vereins Autismus-Wallis eine Beratungsstelle in Brig eröffnen. In ihrer Freizeit mag sie Ausdauersport, meist zieht es sie in die Berge, neuerdings ist sie mit einem Gravelbike unterwegs. Oder sie kümmert sich um ihre vier Enkelkinder.
(Text: Peter Rüegg)
University Cancer Center Inselspital (UCI)
UCI – Das Tumorzentrum Bern ist ein führendes Schweizer Zentrum für die Diagnose und Behandlung von Krebs. Patientinnen und Patienten mit einer Krebserkrankung finden am Tumorzentrum Bern ein breites Angebot von individuell zugeschnittenen Therapieansätzen. In zwölf Organzentren werden sie von hochspezialisierten Teams betreut.www.tumorzentrum.insel.ch