14. November 2022

Schlagartig in ein neues Kapitel

Patientinnen und Patienten, die zum ersten Mal zu Simon Häfliger in die Sprechstunde kommen, sind meist nicht allein. Der Onkologe erzählt, wie er mit ihnen die Diagnose Krebs anspricht und worauf er im Gespräch besonders achten muss.

Das Lory-Haus ist ein wunderschöner Spitalbau aus den 1920-er Jahren, aus der Zeit der Moderne. Entworfen wurde es von einem der einflussreichsten Schweizer Architekten des 20. Jahrhunderts, von Otto Rudolf Salvisberg. Eine elegante Vorfahrt führt zum gedeckten Haupteingang. Die Eingangshalle hat eine gerundete Deckenöffnung, Nickelgeländer im Treppenhaus schwingen sich hinauf.

Dieser Bau ist ein Denkmal. Aber wer hierherkommt, hat einen Verdacht auf Krebs.

Ein Mann und eine Frau, beide um die fünfzig, steigen in den ersten Stock. Ernste Blicke. Ein kurzer Wortwechsel ist hörbar. Es fliesst Licht aus offenen Türen auf den Gang, wo Patientinnen und Patienten warten. Sie werden freundlich berndeutsch begrüsst.

Sichere Diagnose oder dunkle Ahnung

Simon Häfliger ist Onkologe, spezialisiert also auf die Behandlung von Tumoren an der Universitätsklinik für Medizinische Onkologie. Wer zum ersten Mal hier sitzt, hat meist eine angehörige Person mit dabei. Einige haben bereits eine gesicherte Diagnose, andere nur eine dunkle Ahnung. Manche haben schon viel über die möglichen Krankheiten im Internet nachgeschaut.

«Sie wissen eigentlich, dass sie Krebs haben. Sie wissen nur noch nichts Genaues.»

Das Besprechungszimmer ist hell und schlicht. Eine Liege, ein Tisch, Stühle, ein Bildschirm. Die Gesprächspartner und Simon Häfliger setzen sich einander direkt gegenüber. Kein Tisch liegt dazwischen. Der Blick geht aus dem Fenster über das Quartier Liebefeld hinaus, rechts am Gurten vorbei.

Manche verstummen

Dies ist der schlagartige Einstieg. Es beginnt ein neues Kapitel im Leben eines Menschen – und oft auch im Leben einer angehörigen Person.

Das braucht Zeit. «Die Erstgespräche sind sehr entscheidend», sagt Simon Häfliger, «ich kann mir eine Stunde Zeit nehmen und alle Fragen beantworten. Nur nicht jufeln!» Denn da gehe es ums Kennenlernen. Wer ist die Patientin? Wo steht sie im Leben? Was ist ihr wichtig? Was weiss sie von ihrer Krankheit bereits? Es kann sein, dass jemand sehr viel wissen will. Aber auch das Gegenteil kommt vor. Dass jemand verstummt. Die Kleenex-Box auf dem Tisch zeigt: Hier darf geweint werden.

Aktiv zuhören ist für die Ärztin oder den Arzt mindestens so wichtig wie das Sprechen. Simon Häfliger beginnt das Gespräch daher meist mit einer offenen Frage, zum Beispiel mit dem guten alten «Wie geht es Ihnen?».

Sie sehen Bilder

Ein wichtiger Teil des Erstgespräches sind Bilder. Simon Häfliger dreht den PC-Bilderschirm zu den Gesprächspartnern. So sehen sie die Bilder, etwa Computertomografien, die ein «verdächtiges» Körpergewebe sichtbar machen. Damit können sie sich eine Vorstellung vom Tumor machen. «Die visuelle Komponente ist wichtig im Gespräch», sagt er.

Manchmal kann er die Resultate einer Biopsie besprechen, wenn also ein Teil des Gewebes herausoperiert und untersucht wurde. Manchmal kann er erläutern, was am Tumorboard besprochen wurde – am Tumorboard wird jeder Patient mit seiner Krebserkrankung einzeln vorgestellt und diskutiert. Simon Häfliger bespricht mit den Betroffenen ihr Krankheitsbild, erfragt die Beschwerden, weist auf mögliche Behandlungen, Medikamente und andere unterstützende Therapien hin.

Erstaunlich gefasst

Eine Krebsdiagnose ist für die meisten Menschen ein Schock. «Heftige emotionale Ausbrüche erlebe ich während des Erstgesprächs jedoch selten. Die Mehrheit bleibt während der Gespräche gefasst.» Er kann bestätigen, dass die angehörige Person oft am meisten Mühe mit der Situation hat. Womöglich seien es Verlustängste, die sie plötzlich befielen. Oder sie spüre eine Machtlosigkeit gegenüber der Krankheit: «Gegen die Ursachen kann sie wenig tun. Sie muss das Medizinische in unsere Hände legen.»

Solche Gespräche zu führen ist anspruchsvoll. Für den Facharzttitel Medizinische Onkologie hat Simon Häfliger Kurse in Arzt-Patienten-Kommunikation absolviert. Tatsächlich üben konnte er die richtigen Situationen aber kaum. «Das ist eindeutig eine Sache der Erfahrung», sagt er.

Fehler: zu wenig reden lassen

Ein häufiger Fehler ist, dass die Ärztin oder der Arzt einen Monolog hält. Dabei wollen die Betroffenen zu Wort kommen. Sie wollen als Person wahrgenommen und verstanden werden. Die Ärztin oder der Arzt soll ihre besondere Situation erkennen. Nur so können sie sich voll und ganz auf das Behandlungsteam verlassen.

Simon Häfliger erzählt: «Als junger Assistenzarzt redete auch ich tendenziell zu viel. Ich wollte den Betroffenen alles sagen. Offen sein. Mein ganzes Wissen preisgeben.»

Auch heute als Oberarzt erlebe er Gesprächssituationen, die nicht gut liefen und bei denen er im Nachhinein anders vorgegangen wäre. Hier gelte es, die Situation zu reflektieren und selbstkritisch zu sein, um es beim nächsten Mal besser zu machen.

Er setzt den Rahmen

«Manchmal können wir nicht alles in einer einzigen Sitzung besprechen», sagt Simon Häfliger. Dies ist etwa dann der Fall, wenn ein Patient alle Details und noch viel mehr über Therapien, Nebenwirkungen, zum Arbeitgeber, zur Familiensituation oder zur Gesundheit wissen will. Simon Häfliger setzt dann einen Rahmen: «Lassen sie uns heute nur über die Therapie sprechen. Alles Weitere können wir in einer Nachfolgesitzung ansprechen.»

Andere Betroffene wollen gar nicht alles auf einmal wissen. Simon Häfliger ermuntert sie, ihre Fragen, die sich womöglich später aufdrängen, zu notieren und am Folgetermin wieder mitzubringen.

Nach dem Erstgespräch gehen die Betroffenen in der Regel vorerst nach Hause. Das neue Kapitel in ihrem Leben – das Leben mit Krebs – hat definitiv begonnen. Gleichzeitig beginnt in der Klinik die sorgfältige Organisation der Behandlung und Betreuung.

Zur Person

Simon Häfliger ist Oberarzt an der Universitätsklinik für Medizinische Onkologie. Aufgewachsen in Beckenried, Kanton Nidwalden, studierte er Medizin an der Universität Bern, betätigte sich anschliessend als praktischer Arzt und als wissenschaftlicher Mitarbeiter, darunter zwei Jahre an der Universität Sydney, und ist seit 2017 am Inselspital.

Dort arbeitet er unter anderem im Leitungsteam der klinischen Forschungseinheit, die nationale und internationale klinische Studien im Bereich Hämato-Onkologie und solider Tumoren betreut. Am Departement for BioMedical Research der Universität Bern leitet er eine Forschungsgruppe, die die Entstehung und Behandlung von Lungen- und Hals-Nasen-Ohren Krebs untersucht.

Simon Häfliger wohnt in Bern und ist Vater von zwei Kindern (6 und 8). In der Freizeit ist ihm jede Form von Bewegung wichtig, zu Fuss, auf dem Rad oder im Winter auf der Skipiste. «Und ich bin ein bekennender Familiengärtner», sagt er. Auf einer Schrebergarten-Parzelle der Sektion Bern-Südwest zieht er im Sommer Gemüse und Früchte – für die ausgewogene Ernährung.

(Text: Peter Rüegg)

University Cancer Center Inselspital (UCI)

UCI – Das Tumorzentrum Bern ist ein führendes Schweizer Zentrum für die Diagnose und Behandlung von Krebs. Patientinnen und Patienten mit einer Krebserkrankung finden am Tumorzentrum Bern ein breites Angebot von individuell zugeschnittenen Therapieansätzen. In zwölf Organzentren werden sie von hochspezialisierten Teams betreut.www.tumorzentrum.insel.ch