19. April 2022
Musik berührt, bewegt und verbindet
Rhythmus, Klänge und Melodien wirken auf unseren Körper, unsere Seele und Gedanken. Die Musiktherapeutin Bettina Kandé-Staehelin unterstützt Patientinnen und Patienten im Umgang mit ihrer Krankheit. In dieser Therapieform wird – je nach Bedarf – gesprochen, gespielt, gesungen und bewegt.
Sie streicht mit den Fingerspitzen über die Saitendecke einer Körpertambura. Es ist, als ob hundert leise Rufe aus der Ferne klängen. Sofort bin ich hellwach und aufmerksam.
Der Instrumentenwagen
Bettina Kandé-Staehelin zeigt noch zwei weitere Musikinstrumente, mit denen sie arbeitet, eine Sansula und eine Handpan (siehe Fotos). Dann öffnet sie einen Schrank: eine Vielzahl von Instrumenten liegt hier, manche sehen exotisch aus, ihre Namen kennt man kaum, die meisten sind handlich, leicht spielbar und geben zurückhaltende Klänge. «Man kann aber durchaus auch Lärm veranstalten», sagt sie lachend.
Bettina Kandé-Staehelin ist eine von drei Musiktherapeutinnen am Inselspital. Sie besucht Patientinnen und Patienten auf Krebs-Stationen oder im Palliativzentrum. Ob die Patientinnen und Patienten gemeinsam mit ihr selbst auf den Instrumenten spielen oder nur zuhören möchten, klärt sie im therapeutischen Gespräch mit ihnen ab.
Zuhören und mitspielen
Bettina Kandé-Staehelin stimmt ihr Angebot ganz auf die psychischen und körperlichen Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten ab. Im Instrumentenwagen sind auch ein Musikplayer und Lautsprecher zur Hand, wenn jemand den Wunsch hat, eine bestimmte, für die Person bedeutsame Musik abspielen zu wollen.
«Man muss wissen, was Patientinnen und Patienten wollen. Denn Musikgeschmack ist sehr individuell. Musik, die allen Menschen guttut, gibt es nicht. Im Gegenteil.»
Musik kann Gefühle abrupt zum Vorschein kommen lassen, längst vergrabene Erinnerungen, Wünsche – aber eben auch Angst, Trauer oder Wut. Musiktherapeutinnen sind dafür ausgebildet, Musik differenziert einzusetzen, ihre Wirkung auf einzelne Personen sehr genau zu beobachten und dabei emotionale Prozesse, wie eine Krankheitsbewältigung zu unterstützen.
Mit einem Leiden besser umgehen
Ein Patient fragte sie einmal, ob sie ihm «den Krebs wegmachen» könne. Nein, das könne sie nicht. Musiktherapie wirkt unterstützend im Umgang mit der Krankheit. «Coping» heisst es in der Fachsprache.
Effekte von Musiktherapie sind gut erforscht. So kann im Rahmen einer vertrauensvollen, therapeutischen Beziehung gezielt eingesetzte Musik nachweislich Entspannung fördern, Schmerzen lindern, und einen verbesserten Umgang mit belastenden Gefühlen unterstützen. Auf körperlicher Ebene sind unter anderem der Einfluss auf die Sauerstoffsättigung im Blut, die Herzratenvariabilität, die Hormonausschüttung sowie das Wachstum des Gehirns von Frühgeborenen gut erforscht.
«Ich bin ein Fan von Improvisation!»
Bettina Kandé-Staehelin setzt auf die musikalische Improvisation, wenn sie am Patientenbett ist. Aus dem Moment heraus und in feiner Abstimmung auf ihr Gegenüber entstehen Rhythmen, Melodien, Klänge. Dabei spielt sie je nach Bedürfnis ihres Gegenübers für die Patienten und Patientinnen oder mit ihnen gemeinsam.
Häufig können auch deren Angehörige einbezogen werden: «Letzte Woche spielte ein Sohn Geige, während der erkrankte Vater dazu sang und ich mit der Körpertambura begleitete.»
«Die Frau sass aufgerichtet im Bett und spielte auf einem kleinen Glockenspiel. Ihr Mann beobachtete staunend, wie jugendlich seine kranke Frau in dem Moment wirkte. Schliesslich sagte sie erfreut: ‹Ich wusste ja gar nicht, dass ich improvisieren kann! ›»
Ressourcen und Fähigkeiten neu zu entdecken oder wiederzufinden sind nur einige der therapeutischen Ziele von Musiktherapie. Sehr wichtig für Bettina Kandé-Staehelin ist das Erleben von Selbstwirksamkeit: wenn eine Patientin zum Beispiel durch das aktive Spielen sinnlich erfährt, dass sie auch vom Patientenbett aus handlungs- und beziehungsfähig ist. Das stärkt ihr Vertrauen, dass sie eine schwierige Situation durchaus zu meistern vermag.
Auf der Palliativstation
Wenn Bettina Kandé-Staehelin als Teil des Behandlungsteams Menschen besucht, die sich kaum noch bewegen und ausdrücken können, braucht sie ein besonders feines Auge und Gehör. Wie nehmen die Patientinnen und Patienten die Klänge und Geräusche auf? Entsprechen ihnen die Lautstärke, Tempo, Klangfarbe?
Sie achtet darauf, wie schnell und tief die Atemzüge sind und wie sich die Körperspannung verändert. Da erlebt sie oft, wie Musik sprichwörtlich bewegt und berührt – manchmal sehr überraschend, wenn ein scheinbar schlafender Patient, die Hand in Richtung der Klangquelle ausstreckt, zu summen beginnt, die Augen öffnet. Oder wenn die Füsse, die unter der Bettdecke hervorschauen, im Takt wippen.
Zur Person
Bettina Kandé-Staehelin arbeitet als Musiktherapeutin an der Universitätsklinik für Medizinische Onkologie des Inselspitals. Daneben ist sie Dozentin für Musiktherapie an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) und führt gemeinsam mit einer Kollegin eine Praxis für Musiktherapie in Bern.
Der Werdegang von Musiktherapeut:innen ist sehr unterschiedlich. In der Schweiz ist die Ausbildung auf Weiterbildungsebene angesiedelt; im benachbarten Ausland gibt es grundständige Studiengänge an verschiedenen Hochschulen und Universitäten. Sie selbst hat sich nach einem Studium der Musikpädagogik und Musikethnologie in Berlin für ein vierjähriges, berufsbegleitendes Nachdiplomstudium in Zürich entschieden und anschliessend 15 Jahre Erfahrungen in verschiedenen Berufsfeldern gesammelt, bevor sie am 1. November 2021 ins Inselspital gewechselt hat.
In ihrer Freizeit spielt sie Kontrabass und Saxophon in verschiedenen Projekten, und sie bezeichnet sich als leidenschaftliche Leserin. Sie ist Mutter von zwei erwachsenen Töchtern und wohnt mit ihrem Partner in Wohlen bei Bern, «in Hörweite des Sees mit seinen Naturgeräuschen – wo sich die Ohren erholen können».
(Text: Peter Rüegg)
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University Cancer Center Inselspital (UCI)
UCI – Das Tumorzentrum Bern ist ein führendes Schweizer Zentrum für die Diagnose und Behandlung von Krebs. Patientinnen und Patienten mit einer Krebserkrankung finden am Tumorzentrum Bern ein breites Angebot von individuell zugeschnittenen Therapieansätzen. In zwölf Organzentren werden sie von hochspezialisierten Teams betreut. www.tumorzentrum.insel.ch