30. März 2023
Die beste Lösung ist nicht immer perfekt
Nicht alle Krebspatientinnen und Krebspatienten können während der Behandlung nach Hause gehen. Wer gesundheitlich angeschlagen ist oder eine komplexe Therapie erhält, wird auf einer Bettenstation behandelt. Disponentin Brigitte Herrmann sorgt dafür, dass alle rechtzeitig ihr Zimmer bekommen.
Was für eine unglaubliche Sicht! Das kleine Eckbüro trohnt wie ein Erker weit oben über dem Insel-Areal in der 13. Etage: Fensterfronten nach drei Seiten, der Blick geht weit bis in die Jurahöhen und über die Stadt. Ein Windstoss rüttelt an den Jalousien.
11 Uhr. Brigitte Herrmann ist am Telefon: «Geht es ihr nicht so gut? Wechselt ihr sie noch? Ja, sie kann ins 115 rein.» Der Arbeitsplatz ist sehr aufgeräumt, wenige Notizzettel, Post-Its, Telefonlisten.
Und ein schmaler, blauer Ordner.
Sie macht sich mit Bleistift Notizen. Schon klingelt es wieder: «Hallo, lange nichts mehr von dir gehört. Wie geht es dir? Du brauchst ein Tagesbett?»
Notfälle und geplante Fälle
Heute sei es ruhig, sagt Brigitte Herrmann. Sie habe nur geplante Eintritte, keine Notfälle und auch keine zehn Anfragen nach freien Betten wie in der Woche zuvor.
Brigitte Herrmann ist Bettendisponentin. Sie sorgt dafür, dass Krebspatientinnen und Krebspatienten fach- und zeitgerecht auf den verschiedenen Abteilungen im Medizinbereich Tumor aufgenommen werden. Insgesamt hat sie 68 stationäre Betten auf sechs Abteilungen im Blick. Diese befinden sich im Hochhaus und in anderen Gebäuden des Inselspital-Areals.
Etwa die Hälfte der Betten ist fix einer spezifischen Behandlung zugeteilt. Das engt den Spielraum ein. Und der Notfalldienst des Spitals kann jederzeit nach einem freien Bett fragen, wenn ein onkologischer Patient aufgenommen werden muss.
Zugewiesen werden ihr die Patientinnen und Patienten durch Fachärztinnen und Fachärzte der Universitätskliniken für Radio-Onkologie, Medizinische Onkologie und Nuklearmedizin, sowie vom Konsiliardienst Palliative Care. Brigitte Herrmann rechnet nach: «Es sind mehr als 50 Ärzte».
Die Bettenliste
Die geplanten Eintritte sind einfacher, da hat sie ein paar Tage bis Wochen Vorlauf. Es sind Patientinnen und Patienten, die einen Brief mit dem Aufgebot für eine Behandlung im Spital erhalten haben. Viel kniffliger sind die Notfälle. Da muss sie rasch eine Lösung finden.
Das Telefon klingelt: Ein Onkologe möchte seine Patientin anmelden. Er fragt, wie er vorgehen soll. Brigitte Herrmann fragt gezielt nach, damit seine Patientin in ein Zimmer aufgenommen werden kann: «Kommt sie schon in einem Bett? Wie gut zu Fuss ist sie? Ist die Blutentnahme schon erfolgt?»
Sie notiert sich Stichworte, der Onkologe wird alles noch schriftlich nachreichen. «Da ich selbst von der Pflege bin, weiss ich genau, was es braucht.»
Brigitte Herrmann öffnet den schmalen, blauen Ordner, ein unscheinbares Ding, das nur wenige A4-Blätter enthält. Sie habe ihn immer dabei, meint sie, «das ist mein zweites Hirn.» Auf dieser Bettenliste notiere sie alles, was sie zu Patientinnen und Patienten erfahre. Sie kennt die Patientinnen und Patienten von ihren Dossiers, sie ist an wöchentlichen Rapporten dabei, spricht sich mit Ärztinnen und Ärzten und dem Pflegepersonal ab. Einige der Patienten kennt sie auch persönlich.
Die Bettenliste besteht aus Vierecken, nach den Abteilungen aufgeteilt. Darin sind die Namen von Patientinnen und Patienten eingetragen. Dazu die voraussichtlichen Austrittstermine. Tagsüber aktualisiert sie die Liste laufend. Was über Nacht hinzukommt, trägt sie am Morgen nach.
Und wenn es nicht aufgeht?
Im besten Fall geht alles auf. Für jede neue Patientin und jeden neuen Patienten steht ein Bett in einem Zimmer bereit. Was aber, wenn es nicht aufgeht? Wenn zum Beispiel notfallmässig ein zusätzliches Bett benötigt wird? Oder wenn zehn Fälle angemeldet sind, aber nur acht Betten parat sind?
«Dann beginnt das Verhandeln», sagt Brigitte Herrmann, «eine Lösung finden wir fast immer.»
Zum Beispiel muss manchmal eine Patientin auf eine andere Klinik innerhalb des Spitals verlegt werden. Oder jemand muss seinen geplanten Termin verschieben. Brigitte Herrmann bespricht mit den Onkologen, wen sie umbuchen kann und wen nicht. Dank ihrer Erfahrung weiss sie, welche Krebsfälle oberste Priorität geniessen und bei welchen sie eine Umbuchung organisieren könnte.
Bei diesen Fällen braucht sie das Einverständnis von all jenen Onkologen, deren Patientin oder Patient betroffen wäre. Danach ruft sie diese zu Hause an und sagt: «Ich muss Ihren Termin in Absprache mit Ihrem Onkologen leider kurzfristig um einen Tag verschieben. »
Das seien keine angenehmen Telefonate. Eine Krebsbehandlung verschiebe niemand mit gutem Gefühl. Besonders nicht, wenn bereits Spitexfahrdienst, Kinderbetreuung oder Krankmeldung beim Arbeitgeber organisiert seien.
Was ihr an dieser Arbeit am meisten gefällt? «Die persönlichen Beziehungen! Ich bin mit dem halben Inselspital vernetzt.» Von einigen kenne sie zwar nur die Stimme am Telefon, aber sie sei immer neugierig darauf, wie die Person in Wirklichkeit aussehe.
11.45 Uhr. Brigitte Herrmann geht zum täglichen Termin bei der Pflegedienstleiterin Esther Squaratti-Heinzmann. Beide kennen sich seit bald 25 Jahren. Sie sprechen sich in kurzen, knappen Worten ab. Während die Pflegedienstleiterin weiss, wie viele pflegerische Ressourcen zur Verfügung stehen, weiss die Bettendisponentin, welche Betten und Zimmer zur Verfügung stehen.
Sie gehen jede Patientin und jeden Patienten auf der Bettenliste namentlich durch, wobei die Pflegedienstleiterin zwei oder drei Sätze darüber sagt, wie die Behandlung läuft. Dann folgt die Einschätzung, wann eine Patientin oder ein Patient entlassen wird. Das Wort «eventuell» fällt oft.
«Ja, er geht heute Abend heim. Wohin er geht, wissen wir noch nicht.»
«Frau X. geht es besser?»
«Sie kann morgen heim.»
«Achja? Das ist eine Überraschung!»
Zur Person
Brigitte Herrmann sieht sich sowohl als Organisatorin und Verhandlerin als auch als Netzwerkerin. «In meinem Herzen bleibe ich jedoch Pflegende». Neben der Funktion als Bettendisponentin arbeitet sie als Pflegefachfrau auf der Poliklinik für Radioonkologie. Früher war sie 17 Jahre im Pflegeteam einer onkologischen Bettenstation tätig. «Für meinen Job muss man Nerven haben. Man muss es aushalten, wenn’s keine Lösungen gibt. Und dabei freundlich bleiben.» Brigitte Herrmann wohnt in Herrenschwanden bei Bern.
(Text: Peter Rüegg)
University Cancer Center Inselspital (UCI)
UCI – Das Tumorzentrum Bern ist ein führendes Schweizer Zentrum für die Diagnose und Behandlung von Krebs. Patientinnen und Patienten mit einer Krebserkrankung finden am Tumorzentrum Bern ein breites Angebot von individuell zugeschnittenen Therapieansätzen. In zwölf Organzentren werden sie von hochspezialisierten Teams betreut.www.tumorzentrum.insel.ch